Die EU, Frau Merkel und das Vertrauen der Menschen
Mit der EU-Wahl sollte alles anders werden. Erstmalig stellten die europäischen Parteifamilien Spitzenkandidaten für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten, was, wenn man den Parteien glaubt, zu mehr Demokratie in Europa führt. Der Spitzenkandidat, der mit seiner Parteifamilie die meisten Stimmen holt, sollte am Ende das Amt übernehmen. Dies scheint jetzt auch so zu kommen, wenn wir Frau Merkel denn glauben dürfen, aber dies auch nur, weil ein starker öffentlicher Druck entstanden ist, nachdem Frau Merkel in der letzten Woche noch darüber nachdachte, ob es denn wirklich Herr Juncker sein muss, der zum EU-Kommissionspräsidenten gewählt wird.
Nein, Spitzenkandidaten erhöhen nicht den Demokratiestand in der EU, aber genau damit haben die europäischen Parteien geworben. Und genau hier liegt das Problem! Wenn jetzt jemand anderes EU-Kommissionspräsident werden würde, der vorher gar nicht zur Wahl stand, was würde das über die Demokratie aussagen? Das Signal wäre, dass dem Europäischen Rat der Wille des Souveräns, in dem Falle alle Wahlberechtigten in der EU, vollkommen egal ist. Und das wiederum würde den Wählerinnen und Wählern zeigen, dass es in dieser EU gar keinen Willen zu mehr Demokratie gibt, was wiederum das Vertrauen in die EU noch mehr schädigen würde – wenn denn überhaupt noch vertrauen vorhanden ist.
Frau Merkel hat mit ihrem Zögern die Glaubwürdigkeit der EU schon jetzt beschädigt. Sie hätte sich sofort hinter ihren Spitzenkandidaten stellen müssen, egal welche Bedenken Großbritannien oder andere Länder haben. Die andere Lösung wäre gewesen, dass von vornherein auf Spitzenkandidaten verzichtet wird, dann hätte allerdings niemand erklären können, warum die Wahl des EU-Parlaments an Wertigkeit gewonnen hat.
Und eine weitere Frage stellt sich. Was wäre gewesen, wenn Martin Schulz mit den Sozialdemokraten stärkste Kraft geworden wäre? Hätte Frau Merkel sich dann dafür eingesetzt, dass Martin Schulz zum EU-Kommissionspräsidenten gewählt worden wäre? Immerhin wäre das der Kandidat des gegnerischen Lagers gewesen? Und daran schließt dann natürlich die Frage an, ob Spitzenkandidaten überhaupt einen Sinn machen, wenn am Ende der Europäische Rat sich doch für einen anderen Kandidaten entscheiden kann?
Die EU hat sehr große Demokratiedefizite, aber wenn man schon bei solch einem Thema an Glaubwürdigkeit verliert, welcher Europäer sollte dann wirklich noch daran glauben, dass diese Demokratiedefizite wirklich beseitigt werden können? Wie sollen die Menschen vertrauen aufbauen, wenn Frau Merkel schon jetzt, so kurz nach der Wahl, die Spielregeln anders auslegen will, als sie vor der Wahl propagiert wurden? Die Europäische Union hat schon jetzt ein Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsproblem, was an den Ergebnissen der Rechtspopulisten deutlich abzulesen ist. Wenn Frau Merkel und ihre Kollegen jetzt mit solchen Spielchen anfangen, wird dies nicht besser werden, und wenn es nicht besser wird, dann wird die Europäische Union scheitern.Und dieses Scheitern würde alle Möglichkeiten eines Neustarts für lange Zeit vernichten, und genau diesen Neustart braucht die EU – einen Neustart, der den Menschen in den Mittelpunkt stellt, der den Menschen mitnimmt, eine Mit-Mach-Union, die nicht nur die Interessen des Kapitals schützt.